Saskia Sassen

Interview

Alexander Wagner: Was ist Ihre Perspektive auf mittelgroße Städte (100.000 bis 1 Million Einwohner), wenn es um Transformation und globalen Wandel geht?

Saskia Sassen: Ich bin voll und ganz dafür. Wir müssen die sehr großen Städte auf dem amerikanischen Kontinent, in vielen Teilen Afrikas und in Indien in ihrem Wachstum stoppen. Den Reichen in diesen Städten geht es gut, aber die große Mehrheit der Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen zahlt einen sehr hohen Preis in Bezug auf ihre Gesundheit und ihre Lebenszeit, wenn sie auf dem Weg von der Arbeit nach Hause ein oder zwei Stunden im dichten Verkehr verbringt. Meine Meinung dazu ist inzwischen, dass wir viel mehr mittelgroße Städte bauen müssen.

Alexander Wagner: Wie sehen Sie die Städte in Ostdeutschland und im übrigen Osteuropa und die besondere Art und Weise, in der sie in den letzten dreißig Jahren vom globalen Wandel betroffen waren?

Saskia Sassen: Ich denke, diese Städte sind größtenteils in Ordnung, jedenfalls im Vergleich zu endlos großen Städten wie São Paulo oder New York City.

Alexander Wagner: Wie ist es möglich, dass Einkaufszentren, obwohl sie fast vollständig leer stehen, ihren Eigentümern immer noch Gewinn bringen? Die Eigentümer müssen offensichtlich kein Interesse daran haben, in den leerstehenden Geschäften etwas Nützliches, Stadtteilzentren oder vielleicht sogar Wohnungen, für die Menschen in der Stadt zu schaffen. Sie können sie einfach leer stehen lassen und trotzdem einen Gewinn erzielen. Ist also, wie eine Krise aussieht, für einige immer noch ein profitabler Zustand?

Saskia Sassen: Sie klingen da wie ich, aber Vorsicht! Es gibt eine ganz besondere Art und Weise, wie aus leerstehenden Gebäuden Profit geschlagen werden kann. Das ist heutzutage mit besonderen Finanzierungsmodellen möglich. Diese Technologien erlauben es, ein Gebäude in ein Bündel von  „Vermögenswerten“ zu verwandeln. Dabei handelt es sich wieder um eine ziemlich ausgefallene und komplexe Finanzinnovation. Das ist sehr kompliziert und hat mit der Fähigkeit zu tun, mittels algorithmischer Mathematik alle Arten von physisch realen Objekten in etwas Abstraktes zu verwandeln, beispielsweise sogenannte „Assett-Backed Securities“ (ABS, dt.: Forderungsbesicherte Wertpapiere), die mehrmals am Tag gekauft und verkauft werden können. Der Schlüssel ist hier, dass es den Investoren nicht um Wohnraum geht, sondern nur um die Fähigkeit, alles in „Vermögenswerte“ umzuwandeln, die eben mehrmals an einem Tag oder sogar in einer Stunde auf den Finanzmärkten gekauft und verkauft werden können. Das ist noch eine relativ neue Sache, die ganze neue Möglichkeiten gebracht hat.

Alexander Wagner: Das Einkaufszentrum, in dem unsere Intervention stattgefunden hat, liegt mitten im Stadtzentrum von Wuppertal, steht aber zu großen Teilen leer. Wir haben mit den Besucher:innen dort darüber gesprochen, was sie sich für die leeren Räume wünschen. Welchen Rat würden Sie denjenigen, die in der Stadt leben und sie dementsptrechend auch „besitzen“ sollten geben, wie die Umgestaltung städtischer Räume organisiert werden sollte?

Saskia Sassen: Ja, diese oft ziemlich großen Einkaufszentren, die jetzt oft ziemlich tot sind! Wir sollten sie, bevor sie zu Orten des Drogenhandels und von Schlägereien werden, in Wohnraum für Personen mit niedrigem Einkommen und Familien verwandeln, das wäre das Beste. Wir sollten die Kommunalverwaltungen und die Bürger:innen davon überzeugen, dass das eine gute Möglichkeit wäre, diese leeren Gebäude zu nutzen.

(Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Wagner)


Saskia Sassen ist Robert S. Lynd Professor für Soziologie an der Columbia University in New York und leitete dort das Committee on Global Thought. Ihre Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Wichtige Veröffentlichungen waren Cities at War (mit Mary Kaldor, Columbia University Press 2020), Expulsions. Brutality and Complexity in the Global Economy (Harvard University Press, 2014) und Cities in a World Economy (5. Auflage, Sage 2020). Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Prinz-von-Asturien-Preis 2013 und den Internationalen Edgar de Picciotto-Preis 2020. Sie trägt mehrere Ehrendoktorwürden, war Mitglied des Club of Rome und wurde vom Magazin Foreign Policy in die Liste der „100 Top Global Thinker“ aufgenommen.