Philipp Ther

Der Osten im Westen.
Die Kotransformation der alten Bundesrepublik

Wenn westliche Wissenschaftler nach 1989 von der Transformation sprachen, dann meinten sie damit stets die postkommunistischen Länder im Osten Europas. Bei ihnen, so die verbreitete Ansicht, würde sich fast alles ändern, dagegen im Westen fast nichts. Warum auch – der Westen hatte ja den Kalten Krieg und die innerdeutsche „Abstimmung mit den Füßen“ gewonnen. Wenn westdeutsche Politiker den Begriff „Reformstaaten“ in den Mund nahmen, hatten sie die gleiche geographische Schere im Kopf. Reformen sollte es jenseits der Mauergrenze geben, im äußeren und inneren Osten, der ehemaligen DDR, die man mit patriarchalischem Unterton „fünf neue Länder“ nannte, als ob all die westdeutschen Bindestrich-Länder uralt seien.

Bei der Einteilung der Zeit gab es ebenfalls einen Scherschnitt. Fast jeden Tag war in den Nachrichten von „historischen Momenten“ die Rede, als würde das Rad der Geschichte angehalten und dann um so schneller weitergedreht. Bekannte Zeitgenossen wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama riefen sogar das „Ende der Geschichte“ herbei und meinten damit eine Mischung aus Kapitalismus und Demokratie. Während das in den sogenannten Reformstaaten nur durch radikale Reformen erreichbar schien, hatte der Westen beide Teloi der Geschichte bereits erreicht. Hätten mehr Künstler und Schriftsteller das Ende der alten Bundesrepublik verinnerlicht und verarbeitet, hätte es vielleicht ebenso Phantasien freigesetzt wie bei meinen ostdeutschen Lieblingsautoren Ingo Schulze und Lutz Seiler.

Radikale Reformen beschleunigen erst einmal den Niedergang – das erfuhren die Menschen im Osten ab 1990 und die im Westen gut zehn Jahre später mit den Hartz-Reformen. Viele Städte des Ruhrgebiets verfielen, bröckelten, dämmerten vor sich hin, wobei die unendlich lange Dämmerung im Juni und Juli einer der Gründe ist, warum ich im Sommer gern ins Ruhrgebiet fahre. Wem das abendliche Blaudunkel zu düster wird, der kann sein Gemüt mit dem weißen Streifen am nördlichen Horizont aufhellen, der erst um Mitternacht kurz verschwindet.

Der Verfall kann auf die Laune schlagen, vor allem wenn man als junger Mensch in den Arbeitsmarkt eintritt. Aber er öffnet zugleich politische, soziale und kulturelle Spielräume. Insofern war die Kotransformation, welche die ehemalige alte Bundesrepublik ereilt hat, nicht das schlechteste Schicksal. Es kommt immer darauf an, was man daraus macht – so wie jetzt Sebastian Jung mit Bananen für Wuppertal.


Philipp Ther, lehrt Geschichte an der Universität Wien und hat zuletzt bei Suhrkamp Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation publiziert. Er erhielt 2015 den Richard G. Plaschka-Preis, sowie für sein Buch Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent den Preis der Leipziger Buchmesse und den Preis „politisches Buch des Jahres“ der Friedrich-Ebert-Stiftung.