Transformationen. Eine Bruchstelle
Über eine Form hinausgehen zu einer anderen; Leben ist nichts anderes als das: Es heißt sich ändern. Oder ist es nicht doch so, dass sich konkrete, soziale Existenz durch eine gewisse Schwerkraft zur Erhaltung einer einmal erreichten Ordnung auszeichnet? Die bürgerliche Lebensform scheint eher darin zu bestehen, Transformationen zu verhindern. Vielfach werden sie mit Schlechtem, mit Verlust, Verfall oder Bruch in Verbindung gebracht. Wenn sich dann eine Veränderung ankündigt, wird jene Schwerkraft den Verlust umso schwerer erscheinen lassen.
Transformationen scheinen zunächst kontinuierlich zu verlaufen. Können wir uns an einen Bruch erinnern, der unsere Welt heute von der Vor-Corona-Welt trennt? Seltsam genug hat sich eine sogenannte „andere“ oder „neue Normalität“ ergeben, ohne dass wir genau sagen könnten, wann uns die offenbar alte Normalität abhanden gekommen wäre. Allerdings — es wurde lediglich eine Normalität von einer anderen abgelöst. Das kann bruch- oder übergangslos vor sich gehen.
Aber es gibt ohne Zweifel auch gewalttätige Transformationen, Ab- und Umbrüche, aus denen erst nach und nach neue Formen entstehen. Das sind, behaupte ich, die eigentlichen Transformationen, die sich tief in die Geschichten der Menschen einschreiben, einritzen, so dass diese aus ihren Geschichten als genau diese Einzelnen hervorgehen. Bei diesen Transformationen erhält der Übergang, die Phase, in der das Alte schon weggebrochen ist und das Neue noch nicht erschien, seinen ihm ganz eigenen unheimlichen Charakter.
Bruchstelle, an der Menschen die sich jenseits der Grenze (jede Form hat Grenzen) öffnende und unabsehbare Leere beinahe als eine bleibende Verletzung erfahren. Wenn man diesen Übergang überhaupt überlebt, dann in Suchbewegungen, die Schritt für Schritt — und wer geht schon gern durch sinnlos gewordene Räume, wer vermag sich da aufrecht und mit alter Frische zurechtzufinden? — auf noch Unbekanntes zuhalten, vielfach taumelnd, wankend, jedenfalls unsicher.
Es gibt aber auch eine Grenz-Erfahrung, in der man glaubt, man würde das Ziel der Transformation schon sehen und kennen. In diesem Gefühl fuhren vielleicht damals in der Nacht vom 9. November 1989 die ersten hellblauen Trabis über die Grenze nach West-Berlin, als habe man gewusst, was bei diesem Übergang tatsächlich geschah. Vom Westen aus gesehen, war es befremdlich, wie offenbar die meisten meinten, die Transformation einer zusammengebrochenen Gesellschaft sei nur eine Grenzüberquerung gewesen.
Der erzwungene Verlust einer Lebensform, die selbstverständliche Orientierung bot, ist wie die Amputation eines funktionierenden Organs und der folgende Versuch, mit einer gehassten Prothese im neuen Leben erfolgreich zu operieren. Und doch lässt uns die Transformation keine andere Wahl. Und einmal wird sich wieder eine Normalität einstellen, um — hoffentlich — eines Tages abzusterben.
Peter Trawny, geb. 1964 ist Philosoph und lehrt an der Bergischen Universität Wuppertal. Er widmet sich der Ausarbeitung eines philosophischen Verständnisses von Globalisierung und Kosmopolitismus und versucht, ausgehend von Martin Heideggers Ereignis-Denken den marxistischen Revolutionsdiskurs in die Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu übersetzen, wobei sich Fragen der Politischen Philosophie mit jenen der Technik- und Medienphilosophie verflechten. 2019 erschien sein Buch über die Philosophie der Liebe.