Behauptung: Ostdeutsche Powerfrauen
transformieren verstaubte Geschlechterverhältnisse
Der Begriff der Transformation erfreut sich momentan großer Beliebtheit. Einen ersten Schub erhalten hat die Debatte 2011 durch den Bericht „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen, die Herausbildung einer an Nachhaltigkeitsfragen forschenden „transformativen Wissenschaft“ (Schneidewind, Singer-Brodowski 2013) und die Einrichtung verschiedener Lehrstühle an deutschen Hochschulen zu Fragen der „Transformationsdynamik“ (Reinhard Loske, Universität Witten/Herdecke) und des „Transformationsdesigns“ (Harald Welzer, Universität Flensburg). Viele Akteure der neueren Transformationsforschung berufen sich auf das 1944 erschienene Werk The Great Transformation von Karl Polanyi, der systematisch die „Entbettung“ der Wirtschaft aus ihren sozialen Bezügen während des 19. und 20. Jahrhunderts in den Industriegesellschaften beschreibt.
Ich hingegen möchte den politologisch-geschlechterpolitischen Zugang zum Transformationsbegriff. Im engeren politikwissenschaftlichen Sinne befasst sich die Transformationsforschung traditionell mit Veränderungsprozessen in Staaten und Gesellschaften, im Regelfall von eher autoritären zu eher demokratischen Strukturen. Man spricht dann häufig von Transformationsstaaten oder Transformationsgesellschaften. Dabei findet eine klare Abgrenzung zu den Begrifflichkeiten des Regierungs-, Regime- oder Systemwechsels statt. Es werden Zerfalls-, (Neu)Institutionalisierungs- und Konsolidierungsprozesse systematisch untersucht. Als Ausgangspunkte für Transformationsprozesse werden häufig (wirtschaftliche und politische) Legitimitätskrisen, externe Schocks, Dominoeffekte oder zunehmend auch ökologische und Ressourcenkrisen betrachtet.
Schauen wir auf die Transformationsprozesse in Ostdeutschland seit 1989: Die Entdifferenzierung des alten Systems bzw. dessen Ende, die Institutionalisierung, Redifferenzierung und Konsolidierung des neuen Systems ist der Erfahrungsraum, der die Transformationserlebnisse von ostdeutschen Frauen umreißt. Dabei stelle ich die These auf, dass dieser Erfahrungshorizont die „Frauenfrage“ in besonderer Weise beeinflusst hat und sie heute in die Lage versetzt, die andauernden Transformationen des Geschlechterverhältnisses in Deutschland progressiv mitzugestalten und sogar eine Vorreiterrolle bei der Etablierung eines gerechteren Geschlechterarrangements zu spielen. In der Frage der Geschlechterverhältnisse und der Frauen- und Müttererwerbstätigkeit passt sich ausnahmsweise der Westen an den Osten an und fördert die Transformation hin zu gerechteren Geschlechterarrangements.
Judith Enders, geb. 1976 ist Politologin und Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie lehrt an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin mit den Schwerpunkten Nachhaltigkeit und politische Theorie und arbeitet darüber hinaus als freiberuflicher Coach, Mediatorin und Psychoanalytikerin in Ausbildung. Außerdem ist sie Mitbegründerin der Initiative Dritte Generation Ostdeutschland und des daraus hervorgegangenen Vereins Perspektive hoch 3, der 2020 mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet wurde.