Essay von Heinz-Norbert Jocks

Vom Langen Marsch der Elefanten
von Leipzig nach Wuppertal

Über eine Intervention von Sebastian Jung
im Einkaufszentrum

Wilde Tiere in öffentlichen Räumen: für Großstädter, die abgeschottet von der Natur leben ein seltener Anblick. Mit dem Überraschungseffekt, eine Herde von Elefanten, metaphorisch gesprochen, durch ein Wuppertaler Einkaufszentrum zu treiben, aus dem sich mehr und mehr Geschäfte zurückziehen, so dass dieser Ort, immer unheimlicher, da immer leerer und ladenärmer, zum Unort mutiert, spielt Sebastian Jung aufs Subtilste. Und da Einkaufscenter als Nachreiter der im 19. Jahrhundert zur Mode gewordenen Passagen wie diese ebenfalls Zwischenräume sind, in denen kein Konsument nach Art der Flaneure länger, als unbedingt nötig, verweilt – es sei denn, die Einkaufszentren weisen eine Mischung von unterschiedlichen Läden mit so glitzernden wie schöndekorierten Schaufenstern auf, welche die Blicke anziehen, und die dort versammelten Cafés und Restaurants laden zum genüsslichen Verweilen an diesen Zwischenorten ein – reflektiert der 1987 in Jena geborene Künstler sowohl über die uns kaum bewusste Vertreibung und Verdrängung wilder Tiere aus den Städten, als auch über die langsame Agonie der Passagen.

Diese erfuhren bisher mehr Aufmerksamkeit bei Schriftstellern und Philosophen als unter bildenden Künstlern. Von dem französischen Romancier, dem Surrealisten Louis Aragon in seinem Roman Pariser Landleben besungen, wurden sie auch von dem in Berlin geborenen, als Jude nach Paris emigrierten Schriftsteller Franz Hessel zu einem Sujet seines Denkens und Sehens erhoben. Durch dessen Schwellenkunde inspiriert, entdeckte sein Freund, der Philosoph Walter Benjamin die Passage als „Kollektivum“, „ein ewig waches, ewig bewegtes Wesen“, „das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen im Schutze ihrer vier Wände“.1 Ebenso umfassend und stets aufs Neue ausholend hat der in Chaville, einem Pariser Vorort wohnende Peter Handke den Schwellen besondere Beachtung geschenkt, sich mit ihrer vergessenen Bedeutung befasst und davor gewarnt, das Sehen von Übergängen in eine Theorie zu zwängen. Stattdessen kommt es ihm darauf an, sie zu erzählen. In dem Roman Der Chinese des Schmerzes, in dem es zu einem Gespräch über Schwellen zwischen Kartenspielern, darunter der Gastgeber, ein Priester, ein Politiker und ein Maler, kommt,2 bezeichnet er Benjamin als den schwellenkundigsten Philosophen, während er sich in seinem Buch zum Film Der Himmel über Berlin von Wim Wenders zu dem bedeutungshaltigen, aufhorchen lassenden, von der Gedankenstimme Homer ausgesprochenen Satz hinreißen lässt: „Warum sehen nicht alle schon als Kinder die Pässe, Pforten und Durchschlüpfe unten auf der Erde und oben im Himmel? Würden sie jeder sehen, […] gäbe es eine Geschichte ohne Totschlag und Krieg.“3

Nun handelt es sich bei dem kollektiven Raum, den sich Jung nicht in erster Linie als Ausstellungsraum, parallel zum oder wider das Museum als traditionellem Hoheitsort der Kunst, sondern als Interventionsfeld seiner subtilen Subversion auserkoren hat, um die Elberfelder Rathaus Galerie. Ihr widmet sich der Künstler mit dem ambitionierten Ziel, sowohl die Verhältnisse in einem Einkaufszentrum, als auch den an diesem nachvollziehbaren Strukturwandel von Städten kritisch zu beleuchten. Das ausgewählte Center eignet sich insofern als konkretes Beispiel, als dieses seine besten Zeiten hinter sich hat. Stehen doch viele Läden, statt Waren zu führen, seit längerem leer, und sind doch einige der Schaufenster mit Papierbahnen verhangen.

Ihre wahre Bedeutung gewinnt die Intervention auf leisen Sohlen erst vor diesem Hintergrund. Sie besteht darin, dass Jung Elefantenzeichnungen auf gelbes PVC gedruckt und die Zeichnungen in Plakatgröße entweder neben eine nackte Modellpuppe auf die Schaufensterverglasung eines leergeräumten Ladens oder auf weiße Wände in die Innenräume ehemaliger Geschäfte geklebt hat. Auch auf den im Durchgangsraum in der Nähe der Rolltreppe platzierten Tafeln, die wie Auskunftsflächen wirken, treffen wir auf Elefantenzeichnungen. Von einem Paar erwachsener Rüsseltiere, welche die linke und rechte Bildhälfte einnehmen, ist da nur die Seitenansicht ihrer Hinterteile mit wedelndem Schwanz. Weit hinter ihnen ein vereinzeltes Jungtier, das unsere Aufmerksamkeit weckt, und im Vordergrund ein sich amüsierendes Trio staunender Menschengesichter. Deren Köpfe sind mit ein paar Strichen als Haare, mit unregelmäßigen Kreisen als Münder und winzigen Kreisen als Glotzaugen skizziert. Alles bewusst naiv, von lockerer Hand und mit lässiger Leichtigkeit frei nach dem bekannten Kinderspruch hingehuscht: „Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht!“ Alles mit einer süßen Prise humorvoller Ironie überzogen, von einer mit Melancholie koinzidierenden Fröhlichkeit und in einer für alle verständlichen Zeichensprache, die zeigt, dass es nicht zwingend eines intellektuellen Abhebens bedarf, um einen Diskurs über essentielle Fragen zu eröffnen, der nicht nur die Elite des Geistes erreicht, sondern jeden einbezieht.

Hinter einem Zaun, über den hinweg Neugierige ihre Arme und Hände einem Muttertier entgegenstrecken, dessen Junges, zwischen den mit Zehen versehenen Säulenfüßen Schutz suchend, dass sich mit seinem noch kleinen Rüssel und einem seiner Riesenohren an einen der vorderen Füße seiner Beschützerin anschmiegt. Neben dieser Ansicht von der tierischen Gemeinschaftsbekundung, gepaart mit zärtlicher Innigkeit, mit der die Elefanten der buchstäblichen Übergriffigkeit der Zoobesucher trotzen, das Bild von einem vor Freude strahlenden Jungen. Über dessen großen Kopf hinweg zielt die grobe Hand eines Erwachsenen, vermutlich der Vater des Jungen, mit dem Handy auf ein fernes Tier im begrenzten Gehege. Hinzugefügt diverse Zitate von Äußerungen, von Jung unbeobachtet in Cafés aufgeschnappt, in denen sich die Besucher des Leipziger Zoos über die Elefanten unterhalten. Denn dort hat Jung die Szenen direkt vor dem Motiv mit dem Zeichenstift aufgespießt. Einen weiteren Elefanten, diesmal als gerahmtes Ölbild, entdecken wir, an einer Wand zwischen Holzregalen aufgehängt, die mit für die Fans des Wuppertaler Sportvereins produzierten Souvenirs gefüllt sind. Um den Signifikanten eines in das Warenumfeld hineingemogelten Elefanten diesem dem Schein nach anzupassen, hat Jung für den malerischen Hintergrund seiner Zeichnung die Vereinsfarben, Rot und Blau, verwendet. Jedoch erfüllt der so in die Szene eingefügte Elefant nicht so recht die Standards der andenkentypischen Kitschästhetik. Denn die gelbe Farbe des Papiers, auf dem der Elefant mit schwarzen Linien so reduziert wie möglich hingezaubert ist, wirkt mehr wie ein Störfaktor im Kontext des auf die Ware projizierten Glücksversprechens. Die Unverträglichkeit der Kunstästhetik mit der Warenästhetik ist zu augenfällig, um nicht unsere Skepsis zu alarmieren, und springt unwillkürlich ins Auge. Dabei stößt unser Unbewusstes auf etwas noch Unverständliches. Ebenso auf die Frage, warum die Elefanten in Leipzig für eine Intervention in Wuppertal gezeichnet wurden. Geht es hierbei insgeheim auch um die gescheiterte Vereinigung der beiden durch die Mauer getrennten deutschen Staaten und zudem um die individuellen, in Westdeutschland gemachten Erfahrungen eines aus Jena stammenden, der die Enttäuschung des westlichen Glücksversprechens erleiden musste, also um die Ernüchterung und das böse Erwachen aus dem Traumgespinst eines falschen Bewusstseins?

Was wir an dieser Stelle des Versuches einer Annäherung an den konzeptuellen Ansatz des Projekts bemerken, ist, dass Jung dieses nicht primär als Erweiterung oder Verlegung des Kunstraums in die öffentliche Sphäre begreift. Es handelt sich dabei weder um eine Attacke auf das Museum als Primärort des Kunstzeigens, noch um einen Akt der Demokratisierung der Kunst qua Einbeziehung eines breiteren, vielleicht museumsscheuen Publikums, das, ohne sich dessen bewusst zu sein, durch das Überschreiten der Schwelle die Verwandlung eines populären Einkaufszentrums in einen temporär bespielten Ausstellungsraum erlebt. Die künstlerische Intervention an einem für Kunst eigentlich nicht vorgesehenen Ort, der von allem anderen, nur nicht von Zweckfreiheit und Interessenlosigkeit zeugt, dient vielmehr der Reflexion über die Beziehung zwischen der menschlichen und der Tierwelt. Dass Jung ein Künstler in der stillen Revolte mit aufklärerischen Neigungen ist, lässt sich einerseits daran festmachen, dass er mit der Kunst, die zweckfrei ist, symbolisch gesprochen, ein trojanisches Pferd ins Einkaufszentrum geschleust hat, dessen Zweck das Tauschgeschäft ist, und andererseits daran, dass er seine Elefanten so dargestellt hat, dass sie zwar niedlich anzuschauen sind, ohne aber im Warenangebot aufzugehen, geschweige mit diesem zu verschmelzen. Das Einkaufszentrum verwandelt sich in einen imaginären Zoo. Mit diesem Widerspruch tut sich ein Einspruch auf. Nur wogegen?

Um den widerspenstigen Geist der Intervention in ihrer Totalität und ganzen Tiefe zu erfassen, bedarf es eines kleinen Umwegs, der uns die alltägliche Nichterfahrbarkeit von Tieren in städtischen Räumen, sowie den gewöhnlichen Umgang mit diesen vor Augen führt. Wir werden sehen, wie sehr das Projekt in dem größeren Kontext der einseitigen Mensch-Tier-Beziehung angesiedelt ist.

Was zunächst zu konstatieren ist: Bis auf Haus- und Nutztiere, den in Aquarien gehaltenen Fischen und den in städtischen Erholungsparks beheimateten Tieren, darunter Enten, Schwäne und Kaninchen, oder den zeitweilig in Nestern auf Hausdächern brütenden Störchen scheinen Tiere aus den von Menschen okkupierten Territorien beinah restlos verbannt zu sein. Ja, in der Menschenwelt sind sie weitgehend inexistent, weshalb wir uns vor ihnen nicht mehr in Acht zu nehmen brauchen. Zudem vermögen wir uns in der heutigen Zeit nicht wirklich vorzustellen, wie Tiere in der sogenannten Wildnis, besser in der freien Natur leben. Dabei werden Städte, vor allem Berlin, auch von Steinmardern, Waschbären, Füchsen, Wildkaninchen und Wildschweinen bewohnt. Aus Scheu treten sie nicht so gehäuft in Erscheinung, als dass wir uns dessen bewusst wären, dass sie Städte als Ernährungszonen nutzen.

Kürzlich, während des Ausgehverbots, zogen Rudel von Rehen, die im Winter sich zu kleinen Gruppen zusammenschließen, durch die postapokalyptisch anmutenden, menschenleeren Pariser Straßen. Auch wurden in Venedigs entschmutzten Kanälen wider aller Erwartung Delphine gesichtet. Alles in allem Ausnahmesituationen, die wohl so lange dauern, wie eine Beinah-Menschenleere auf den Straßen herrscht und Touristenschwemmen wegen der Covid-19-bedingten Reiseverbote ausbleiben. Diese anormalen Bilder vom plötzlichen Einbruch wilder Tiere in unsere Lebenswelt – für uns zum Fotografieren und Filmen einladende Sensationen – graben sich als ungewöhnliche Ereignisse tief in unser Gedächtnis ein.

Alles in allem haben Stadtbewohner die Urangst vor Tieren verdrängt. Sie überfällt uns in alter Frische nur dann wieder, wenn uns des nachts unerwarteterweise ein vereinzelter Fuchs über den Weg läuft, der keinen Drang zur Flucht verspürt, oder wenn wir durch den Ausbruch von Tieren aus dem Zoo in Alarmbereitschaft, gar Panik versetzt werden. Gelegentlich erleben wir bei dem nicht nur von Kindern bestaunten Einzug eines Zirkus‘ in die Stadt, wie Tiere, darunter Elefanten, durch die Straßen geführt werden. Eine Attraktion der besonderen Art für Städter, die über den Anblick wilder Tiere für Momente die Eintönigkeit des Alltags vergessen.

In der Regel verbinden wir mit den von uns entweder vertriebenen oder getöteten Erdmitbewohnern keine direkten Erlebnisse mehr. Was wir über Lebewesen aus der Wildnis und deren Existenzweisen außerhalb unseres Lebensraumes wissen, beruht in der Regel auf keiner unmittelbaren Erfahrung. Vielmehr wird es uns als etwas exotisch Fernes über sich großer Beliebtheit erfreuende Dokumentarfilme und Reportagen aus einer so fernen wie unzugänglichen Welt als unterhaltsames Entspannungs- oder Abschaltprogramm vermittelt. Wenn wir, den Nervenkitzel suchend, zu Reisen durch andere Länder und zu Besuchen von Nationalparks und Dschungeln aufbrechen, erleben wir meist erstmalig und zu unserem großen Erstaunen, wie wilde Tiere jenseits der Menschenwelt eigentlich leben, sich an den begehrten Wasserstellen tummeln und sich diese mit anderen Tierarten teilen. Unvorstellbar schien uns zuvor die friedliche Koexistenz von diversen Tierarten, die nicht voreinander fliehen, weil sie füreinander keine Beute sind.

In den als Unterhaltungszonen errichteten Zoos sehen wir Tiere hinter Gittern oder in umzäunten Gehegen, meist voneinander getrennt, das heißt: jede Tierart für sich, so dass wir nur künstliche, einer Kolonialisierung gleichende Situationen präsentiert bekommen. Auf ein menschliches Maß und auf ein Ausstellformat reduziert, haben sie nichts mit den ursprünglichen Naturräumen zu tun. Alles, dessen wir ansichtig werden, einschließlich die Art und Weise seiner interpretatorischen Repräsentation, verkommt zu einem voyeuristischen Vergnügen, bei dem Tiere zur lebendigen Vergnügungsware aus der exotischen Fremde degradiert werden. Ihnen Eigenschaften zuweisend, welche die Tiere vermenschlichen, kehren wir das An-sich-Fremde in etwas Für-uns-Seiendes um, und zwar in der Hoffnung, dass es uns dadurch vertraut und zugänglich wird. Wähnen wir uns in Zoos durch Gitter und hohe Zäune in Sicherheit vor den zur Schau gestellten wilden Tieren, so separieren wir auch in Aquazoos und Ozeanien Fische, Seelöwen, Haie und Delphine von uns, indem wir sie zu handhabbaren Objekten erklären.

In Aquazoos und Ozeanien blicken wir statt durch Gitter und hohe Zäune durch dickes Acrylglas, als befänden wir uns im Kino. Mit dem kleinen Unterschied, dass wir es nicht mit bewegten Bildern, also mit der Simulation von Leben, vielmehr mit sich real bewegenden Meeresbewohnern zu tun haben, für deren unfreiwilligen Auftritt wir Eintritt zahlen. Auch wenn wir uns durch tunnelartige, verglaste Gänge bewegen, in denen über und unter uns hinweg Haie oder Seelöwen hinweggleiten, so ist das Gefühl, von der Tierwelt buchstäblich umgeben zu sein, kein wirklich hautnahes, sondern das Erleben eines Rundumkinos, bei dem die uns umhüllenden Fenster die Kinoleinwand ersetzen. Wir fühlen uns so verdammt sicher, dass wir nicht einmal darüber nachdenken, was wohl wäre, wenn das Glas dem Druck des Wassers nicht standhielte. Alles andere als ein Nervenkitzel, mehr ein Theater der Welt. Wir zweifeln nicht einmal daran, dass wir mit heiler Haut davonkommen.

Dass dieses Spektakel ein Gewaltakt ist, insofern wir die Tierwelt ihres natürlichen Lebensraums berauben, und die widernatürliche Zähmung von wilden Tieren letztlich zum Scheitern verurteilt ist, wird uns angesichts des von Merian C. Cooper 1933 verfilmten Mythos von King Kong bewusst. Er handelt von der Reise des Regisseurs Carl Denham in Begleitung seiner Filmcrew auf dem Frachter Venture zum entlegenen, auf keiner Karte verzeichneten, nur durch wenige Überlieferungen bekannten Skull Island im indischen Ozean. Dort soll sein nächster Film spielen. Seine Hauptdarstellerin ist eine Neuentdeckung namens Ann Darrow. Bei der Landung gerät die Besatzung in eine Zeremonie der Inselbewohner, deren Dorf durch eine hohe Mauer vom Dahinter getrennt ist. Vor dem Tor der Mauer soll eine junge Frau dem Inselgott Kong geopfert werden. Als Denham die Szene filmen will, wird er dabei von den Insulanern bemerkt und zur Herausgabe von Ann aufgefordert. Der Mannschaft gelingt zwar die Flucht auf das Schiff, doch Ann wird in der folgenden Nacht von den Eingeborenen entführt und zur Opfergabe bestimmt. King Kong, verliebt in das Mädchen, ist ihr gegenüber alles, nur kein Biest. Er verhält sich ihr gegenüber wie ein sanftmütiger Kraftprotz, der sie vor Dinosauriern und Riesenschlangen schützt. Dem nach ihr suchenden Filmteam gelingt die Rettung just in dem Moment, da Kong durch einen Kampf mit einem Flugsaurier abgelenkt ist. Das Tor der Mauer durchbrechend, veranstaltet Kong unter den Eingeborenen ein Massaker. Von der Bootsmannschaft mit Gasbomben betäubt, wird er, in Ketten gelegt, von Denham nach New York verfrachtet. Dort angekommen, wird er in einem Theater am Broadway vor zahlendem Theaterpublikum als „Achtes Weltwunder“ zur Schau gestellt. Bei der Premiere vom Blitzlichtgewitter der Fotografen in Panik versetzt, sprengt er die Fesseln und begibt sich auf die Suche nach Ann durch New York. Dabei tötet er Menschen, wirft wütend mit Autos um sich, lässt eine Hochbahn entgleisen und beklettert das Empire State Building. Für die Menschen in New York wird er zum Risiko und Ungeheuer und in den Augen der Kinobesucher zum Opfer menschlicher Gewalt, das sich gegen die ihm von den Weißen aufgezwungene Rolle als obskures Objekt schaulustiger Wahrnehmung zur Wehr setzt. Die Kontrolle, die der Mensch über das aus seiner Sicht Wilde zu haben glaubte, wird ebenso ad absurdum geführt wie der Glaube, mit dem kalkulierten Nervenkitzel könne Kasse gemacht werden.

Die Dichotomie von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, die eine Trennung von Subjekt und Objekt bedeutet, erweist sich als falsch und fauler Zauber. Der hybriden Art und Weise, wie wir die Tierwelt unseren Gelüsten, Sehnsüchten und Bedürfnissen gefügig machen, um eine Dichotomie zu behaupten, die sich als Dummheit erweist, liegt die törichte Vorstellung zugrunde, wir seien die Herrscher über die Natur als Objekt.

Angesichts dieses kleinen Umwegs fällt ein anderes Licht auf die ästhetische Intervention, die unterschwellig auch eine politische ist. Die Zeichnungen von Jung sind auch lesbar als Beschreibung der anormalen Beziehung, die wir Menschen zu wilden Tieren erzwingen, indem wir diese als Schauobjekte in Käfige, hinter Zäune und Gitter sperren. Mit dem Handy, mit dem die Elefanten fotografiert werden, wird die künstliche Einteilung in Subjekt und Objekt wiederholt. Die Komik, die von dem Gezeichneten ausgeht, ist nichts anderes als eine Distanzierung zu dieser Form der Wahrnehmung von Tieren. Aufschlussreich ist auch der Blick auf das von Edeka in Auftrag gegebene Großgemälde, das direkt auf die Wand des Supermarktes gemalt ist. Es gleicht einer werbenden Ansichtskarte, auf dem in der unteren Hälfte ein Gemüsestand und in der oberen Hälfte mitunter das Wappen von Wuppertal und die Schwebebahn zu sehen sind. Als Kontrast zu diesem Trivialbild hat Jung darauf ein kleines Gemälde mit Elefant gehängt, als wolle er die Unterscheidung zwischen hoher und trivialer Kunst ins Spiel bringen. Gleichzeitig spielt er auf den vor 70 Jahren geschehenen Sturz eines Elefantenweibchens namens Tuffi aus der Schwebebahn in den Fluss an und verrät damit, warum die Wahl des Elefanten für seine Intervention eine bewusste war. Aus Marketinggründen ließ der Zirkusdirektor Franz Althoff am 21. Juli 1950 das Elefantenweibchen mit der Schwebebahn fahren. Dort fühlte sich die Elefantin von den Reportern und Fotografen in der überfüllten Gondel offenbar so bedrängt, dass sie die Flucht ergriff. Nach nur zwei Minuten durchbrach sie die Tür des Waggons, stürzte zehn Meter tief in die Wupper und blieb fast unverletzt.4 Was als unvorhersehbarer Unfall mit relativ gutem Ausgang von den Medien beschrieben wurde, lässt sich auch als Versuch der Befreiung aus den Fängen der Menschen deuten. Bedenkt man zudem, dass Elefanten ursprünglich aus Asien und Afrika kommen, so verbirgt sich hinter der Geschichte ihres Missbrauchs als Schauobjekte auch die des Kolonialismus. Empfinden wir heute die bis ins 20. Jahrhundert existenten Menschenzoos, in denen Ureinwohner wie exotische Wesen in Käfigen gehalten und wie Tiere im Zoo ausgestellt wurden, als menschenverachtend, so besteht bis heute keinerlei Bewusstsein darüber, dass es den Tieren immer noch nicht anders als den Ureinwohnern ergeht. Warum wird dies nicht als tierverachtend wahrgenommen?

1 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Bd. 2, Frankfurt/Main 1982, S. 1051.

2 Peter Handke: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt/Main 1983, S. 123-152.

3 Der Himmel über Berlin. Ein Filmbuch von Wim Wenders und Peter Handke, Frankfurt/Main 1987, S. 91.

4 Dazu: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/tiere/wuppertal-1950-sprang-elefant-tuffi-aus-der-schwebebahn-13714026.html


Heinz-Norbert Jocks ist In- und Auslandskorrespondent von KUNSTFORUM International. Neben seinen Tätigkeiten als Journalist, Autor, Kunstkritiker, Ausstellungsmacher, Essayist und Publizist ist er zusammen mit Dominique Lucien Garaudel Mitbegründer des Meta-Kollektivs The Collective Eye.